Der Mund geht sinnlos auf und zu
Ich habe meine Kinder- und Jugendjahre in Wien verbracht, wo Krieg herrschte, ein Krieg, für den, als damals siebenjähriges Kind, nicht ich verantwortlich war, sondern nur darunter gelitten habe. Während des Bombenhagels bin ich unzählige Male im Luftschutzkeller gesessen, mit Mundschutz, Kopftuch und Staubbrille und einem Säckchen mit den wichtigsten Dokumenten um den Hals. Der Gruss, wenn wir uns von jemandem verabschiedet haben, hiess: „Also dann bis morgen - wenn wir noch leben.“ So war das.
Ich habe Hab und Gut und Angehörige verloren, Hunger und Kälte gelitten und grosse Schwierigkeiten während der Ausbildungszeit gehabt, weil es nach dem Krieg wirklich an allem gefehlt hat. Ich dachte, es könne über mich nichts mehr kommen, was ich nicht schon einmal erlebt habe. Wie habe ich mich da getäuscht!
Jetzt stehe ich vor der Situation, vielleicht meine Nächte erneut im Keller verbringen zu müssen, wie es Unzählige bereits tun, um der Strahlung von Mobilfunkantennen zu entkommen. Wohlgemerkt: Nächte im Keller, in einem demokratischen Land wie der Schweiz - und dies im tiefsten Frieden. Und wofür? Dass jeder von überall her telefonisch erreichbar ist, bis ins dritte Untergeschoss, auf Bergeshöhen, im Zug, im Tram, im Restaurant, womöglich noch auf der Toilette; Kindern wird zum Versenden von SMS-Meldungen ein Natel in die Hand gegeben. Mindestens 80 Prozent der Gespräche werden nicht geführt, weil sie wichtig sind, sondern nur, damit der Mund sinnlos auf- und zugeht.
Wenn jetzt die Wirtschaft boomt, so wird das ein kurzer Boom sein. Denn ein krankes Volk kann nicht mehr arbeiten, zahlt keine Steuern und wird eines Tages sogar Sozialleistungen und Unterstützungen beanspruchen. Dann aber werden jene nicht mehr auf ihren Stühlen sitzen, die uns die Suppe eingebrockt haben, sondern sie von ihren Nachfolgern auslöffeln lassen. Im jetzigen Zeitpunkt jedenfalls wird die Gerechtigkeit mit dem Recht betrogen.